Werkreihe 6

„… und diese Sicht ist beweglich
und diese Sicht ist veränderlich“
Charles Terrasse

Seit etwa 2006 arbeitet H. Hermenau an einer Werkgruppe, bei der er das Fotografische mit dem Malerischen verknüpft.
Ausgehend von selbst angefertigten digitalen Fotografien übermalt er die auf Leinwand gedruckten Bilder teilweise mit Ölfarbe. Als Ausgangspunkt dienen ihm Langzeit- bzw. Mehrfachbelichtungen von Außen- und Innenräumen, z. B. Strandufer, Volksfeste, U-Bahn-Schächte, Galerien u.a.
Diese fotografischen Räume beinhalten durch den längeren Zeitraum ihrer Belichtung bzw. durch das Überlagern von Raumfeldern irritative Aspekte, ist doch durch Bewegung bzw. Mehransichtigkeit kein eindeutiger Betrachter-Standpunkt vorhanden. Dem zeitlichen bzw. räumlichen Gewebe werden nun Figuren hinzugefügt − bekleidet oder nackt − die zwar in diesen Gewebe-Hintergrund eintreten, letztlich aber aus dem zeitlich-räumlichen Gefüge heraustreten. Es ist, als ob für die gemalten Figuren im Gegensatz zu ihrem jeweiligen Hintergrund die Zeit stillsteht bzw. als ob die Figuren dem Betrachter in dem vervielfältigten Raumgefüge einen Halte-Anker bieten.
Auf der formalen Ebene sucht Hermenau eine gewisse Vereinheitlichung der Bildstruktur, in dem er sich sowohl in der Proportionierung der Figuren als auch der Farbwahl dem vorhandenen Realitätsgrad der Fotografie annähert. Bei einigen Arbeiten ist das Fotografische kaum vom Malerischen zu unterscheiden. Trotzdem geht seine Bemühung in erster Linie dahin, den räumlichen Formaspekt, den die Malerei noch erheblich gegenüber der Fotografie forcieren kann, als Gegenpol zum eher Flächigen der Fotografie zu steigern.
Inhaltlich thematisiert Hermenau Menschen-Zeit-Phänomene, wie sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts charakteristisch sind: Fragen nach dem Zusammenleben, nach der Kommunikation, nach divergierenden kulturellen Verhaltensstrategien der Menschen oder der Suche nach ewiger Jugend.
Zudem erscheinen auch mythologische Themen in neuem Gewand.
In einer weiteren Werkgruppe tauchen Figurationen auf, die über Erscheinungsformen des Alltags hinausgehen. Bei diesen farbig eher zurückhaltenden Bildern verwendet er eine Belichtungstechnik für die Hintergründe, die durch die Korrespondenz unterschiedlich scharfer Bildebenen einen vibrierenden Bildgrund erzeugt. Indem Hermenau von ihm verehrte Meister der Malerei zitiert, entstehen Bilder, deren Klang durch die Verknüpfung von Gegenwartsgeschehen und dem historischen Aspekt einen geheimnisvollen, nicht immer leicht lesbaren Gehalt bekommen.
Der Vermeidung einer konkreten, eindeutigen Festlegung wohnt bei näherer Betrachtung auch ein Hinweis auf die konstitutive Bedeutung der Mehrdeutigkeit als Quelle der individuellen Subjektivität inne. Obgleich Hermenau keine vordergründige Kritik an den Einflüssen der gesellschaftlichen Entwicklungen auf die individuelle und kollektive Selbstwahrnehmung betreibt, gelingt es ihm durch die gegenseitige Ergänzung der Wahrnehmungs- und Darstellungsformen der Malerei und Fotografie, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass gerade die Überwindung der Eindeutigkeit zugleich auch die Räume für die Vielfalt der individuellen Freiheitserfahrungen erweitert.

Ernest Mujkić M.A.