Werkreihe 3

Pastiche ist eine literarische Kunstform der Romania, Textstücke in immer anderen Stilvarianten, eingefärbt in die Sprache mehrerer historischen Epochen, zeitgenössischer und toter Autoren, dichterischer Niveaus und formaler Aufrisse. Raymond Queneaus’s, „Exercises du style“ (1947) sind als „tema con variazioni“ berühmt geworden. Was Horst Hermenau in der Bilderserie 1999-2000 vorlegt, erinnert lebhaft an ein solches Pastiche. Über 300 Blätter hinweg hat her er ein Motiv – Thema kann man es nicht nennen – verfolgt. Das Motiv ist rasch mitgeteilt, es waren Schülerarbeiten zum Thema „Porträt“. Beim Ablichten in der Kopiermaschine warfen diese Arbeiten einander ähnliche, dunkle Muster ab, kreisovale Schatten auf Flächentextur in Rechtecksrahmen. Dies neue Textur, halb Kontur und Flächenraster, halb Schleiergebilde und Kraftstrom, regte Hermenau an. Er übermalte , kopierte neu, übermalte wieder, kopierte nochmals… – die Gestaltung wurde zum fesselnden Dialog zwischen ihm und der Maschine. Seine Hand dilatierte, malte, zog Linien aus, schichtete neu, wasserlösliche Farben weichten das Papier von unten auf, ölhaltige zogen schlierige Filmteiche darüber und versiegelten die Tiefen mit Eisströmen von Licht. Im Gegenzug brannte der Kopiervorgang Richtungen wieder zu Struktur ein, Linien zu graphischen Mustern, Farbchromatik zu Flächenwert, Dynamik zu Masse, das Spiel konnte weitergehen.
Als trage er unbewusste Gestaltungskräfte, warf der Kopierer in den Blättern überraschende, neuartige Effekte aus, überredete den Maler, ähnlich unbewusst auf ihnen dahinzufahren, ein Anhäufungs- und Verdichtungsakt folgte dem anderen. Die Anregungen aus dem Kopiervorgang, sagt Hermenau, seien ihm immer wieder suggestive Quelle neuer Ideen geworden, nie habe es ihm an Lust zum Weitermachen gefehlt, zum Antworten, zum befreienden Lösen und Aufbinden der ruhenden Kraftpakete. Anfangs strotzten die porträthaften dunklen Gebilde vor gehaltener Kraft und riefen in manchem Betrachter subversive Angstempfindungen hervor. Im Laufe der Zeit lösten sie sich in graphische Explosionen und Entfaltungen auf, ästig verkeilte oder faserig wuchernde Gebilde, manche flitterig geädert, andere netzig gestrafft, schwammig gebaucht. Am Ende, überraschend genug , nahmen sie von selbst Naturgestalt an, gemahnten an dürres Geäst, trockenes Laub, spiegelnde Wasserflächen, Gesprenkel tauenden oder gefrorenen Schnees im Auge erzeugen. Unser Auge hat offenbar weit mehr Raster für solche „Nebensächlichkeiten“ im Weltbild, als wir ihm zutrauen.
Soweit so gut. Aber was ist daran Kunst? Es ist vieles anders geworden , seit die Maler Abschied nahmen von der schönen Form der Gegenstände, dem schönen Klang der Melodien, der Zauberkraft erzählerischer Welten. Im Geflecht von Künstler, Werk und Betrachter hat sich zunächst bis heute noch das Werk als eigenständiges Wertgebilde gehalten. Ihm kommen noch die ästhetischen Wertbegriffe der Kunst zu: Schönheit, Tiefe, Bedeutung, Maß, Aussage. Wo sie „gerettet“ werden können, sind die Ausstellungen überlaufen und die Museen rege besucht. Wo das Werk indes aus seiner Rolle kippt, gerät die Erbauung weniger ästhetisch als vielmehr soziologisch. Der Kunstbetrieb ersetzt dann die Kunst. Aber zäh hält das Publikum an seiner Genussfreude fest und beharrlich setzt es sich auch hohen Graden an Frustration aus, um einem Werk Gefallen abzuringen, dem es eigentlich ratlos gegenübersteht , weil es sich immer weiter entzieht. Auf dem Bild ist kaum mehr etwas erkennbar, einen Titel gibt es nicht , wie es zu „lesen“ ist, wird nicht mitgeteilt, ob es gefällt, scheint belanglos.
Wo das Werk nicht mehr nach herkömmlicher Art Werk ist, steht zunächst sein Autor in der Pflicht. Er nimmt ja am Beginn die Fäden in die Hand, strickt sie dann vorwärts, kontrolliert sie und webt sie zum Muster. Die „Bilderfolge 1999-2000“ ist so ein Werk. Hermenaus Bilder stellen nicht mehr „etwas „ dar, ein umrissenes Objekt, einen Gegenstand, den man einrahmen und an die Wand hängen könnte: das stellt dieses und jenes dar. Das fertige Bild bildet ein bereits zu spätes Stadium, es ist hinter seinen Zenith geraten, nämlich den Prozess seines Entstehens, in dem auch die Interpretation beschlossen liegt. Es ist nur noch das hinten herausgefallene „Ergebnis dessen, was herauskommt, wenn man…“, aber eben dieses „wenn man…“ war der künstlerische Augenblick an ihm gewesen. Es ist wie bei Friedrich Gulda, wenn er Beethoven zur Seite legte und Jazz machte. Eine Beethovensonate ist für immer festgehalten, Noten, melodische Linien und harmonische Gerüste alle fertig, die Themenverdichtungen ausgefeilt, Stauungen und Entladungen im Lot, man kann sie auf Schallplatte genießen. Jazz auf Schallplatte kommt aber immer zu spät. Das nervöse blitzschnelle Zögern, bevor der Impuls sich in die Finger umsetzt, die in der Luft liegende zentrierte Anspannung, das spielerische Antworten, vor allem aber Friedrich Guldas Erleben, das Zusammenfallen von andrängendem Zeitmoment, Inspiration, Hingabe und „Richtigkeit“ in der Musik, ihr „kairós“, ist weg. Auf Platte hören wir nur, „was herauskam“, wenn Gulda sich so als Klavier benutzte, wir hören Erlebtes, eine historische Reminiszenz. Hermenaus „Bilderserie 1999-2000“ ist etwas ähnliches, eine Art „gemalter Jazz“.

Johannes Schmid